Graz ist eine meiner Lieblingsstädte. Zugegeben, das klingt nicht gerade spektakulär und kosmopolitisch. Ich mag es trotzdem. Gerne spaziere ich durch die schöne Innenstadt oder auf den Schlossberg, flaniere die Mur entlang oder entspanne im Augarten. Liebend gerne genieße ich nach einem Museumsbesuch einen Espresso am Franziskanerplatz. Außerdem wohnt einer meiner liebsten Freunde in Graz. So habe ich schon viele Ecken und Plätze der Stadt kennengelernt, an einem Ort bin ich aber – aus unbegreiflichen Gründen – immer vorbeigelaufen und habe ihn es erst spät entdeckt. Doch nun ist dieses Gebäude ein Fixpunkt jedes Graz-Aufenthalts: die Kirche St. Andrä.
Die Andrä-Kirche, wie die Grazer sagen, steht im Bezirk Gries. Und wer dort schon einmal war, der weiß, dieser Bezirk ist besonders. In ihm leben mehr Menschen mit Migrationshintergrund als anderswo, in ihm finden sich zahlreiche kleine Läden sowie Geschäfte, und diese Seite der Mur besticht durch künstlerische Angebote und Vielfalt. Die Andrä-Kirche ist seit rund 25 Jahren ein wichtiger Teil davon.
Hermann Glettler, Priester und Künstler, seit 2017 Bischof von Innsbruck, war in St. Andrä Pfarrer und aus seiner Initiative heraus ist die Kirche zu einem Zentrum für die Auseinandersetzung von Kunst und Religion geworden, die unter dem Motto »Andrä Kunst« firmiert. Die Andrä-Kirche ist dabei aber nicht zum Museum geworden, sondern sie ist spiritueller Raum für alle Menschen und Zentrum einer lebendigen Pfarrgemeinde für ihre Gottesdienste und Feiern geblieben. Das ist einzigartig.
Die Kirche selbst gehörte zu einem ehemaligen Dominikanerkloster und wurde in dieser Form im 17. Jahrhundert erbaut, im 18. Jahrhundert wurde sie barockisiert und im 19. Jahrhundert erhielt sie eine Fassade im Stil der Neorenaissance. Man könnte sagen, sie schaut aus wie so viele Kirchen in Österreich. Dank ihrer letzten Umgestaltung im Jahr 2010 ist sie aber anders, erfrischend anders.
Der österreichische Künstler Gustav Troger hat der hellen Fassade zahlreiche Begriffe verpasst. Nähert man sich der Kirche, kann man Alltägliches wie Sakrales entziffern und die Kirche spricht einen schon von weitem an. Es scheint unmöglich, bloß Passant*in zu bleiben und schnell vorüberzugehen, man tritt mit der Kirche in Dialog. Wir lesen Wörter wie »science«, »fiction« oder »Skepsis« an der Kirchenwand und sind sofort in das Spannungsverhältnis von Glaube und Vernunft hineingerissen. Wir werden beim Appell »Nur Mut!« vielleicht gerade im Multi-Kulti-Bezirk Gries zur offenen Begegnung mit dem/der Anderen bestärkt und denken bei »Zarte Worte!« an die liebevolle Hinwendung Jesu zum Menschen. Noch viele Begriffe mehr zwingen uns dazu, den Schritt zu verlangsamen, und sie stellen in der Geschäftigkeit der Stadt eine Einladung dar, innezuhalten, über sich selbst und seinen Glauben kurz nachzudenken.
Bischof Hermann Glettler meinte einmal: »Kunst steigert Vitalität. Die Kirche ist als Gottesort der natürliche Umschlagplatz für alle Fragen, die die menschliche Existenz betreffen. Gegen die Banalisierung des Lebens und gegen alle gesellschaftlichen Tendenzen zur Verflachung von Lebenswahrnehmung verbünden sich Kunst und Kirche.« Betritt man den Innenraum der Andrä-Kirche, versteht man diese Worte Glettlers noch besser, denn seit 1999 gibt es permanente wie wechselnde Ausstellungen, Installationen und Kunstobjekte, die den Kirchenraum bestimmen, ohne ihm seine sakrale oder gottesdienstliche Bestimmung und Würde zu nehmen.
Besonders beeindruckend erlebe ich bei jedem Besuch die Andreas-Kapelle mit ihrem barocken Altar, bei dem aber das zentrale Bild seit 2003 bewusst ausgelassen wird. Diese Leerstelle wird einem vielleicht gar nicht sofort bewusst, denn viel auffallender ist das Netz von orangen Farblinien, die wie Feuerstrahlen die Kuppel der Kapelle ausleuchten. Biblische Assoziationen wie die pfingstlichen Flammen oder der brennende Dornbusch begleiten unseren Blick die Linien entlang zur Licht-Öffnung in der Kuppel. So wird die Kapelle zu einem Ort des Aufbruchs und Neuanfangs, der aus der Dunkelheit ins Licht führt.
Beeindruckend auch die neuen Fenster der Kirche St. Andrä. In einem entziffern wir mit einiger Anstrengung ein aus zittrigen Buchstaben geschriebenes »Oh mein Gott« (Lois Weinberger), das nicht nur Interpretationen entlang menschlicher Leiderfahrungen zulässt. Dem gegenüber erblickt man ein schlichtes Fenster von Markus Wilfing mit Glastür in lichter, unerreichbarer Höhe. Ist das die Tür zum Himmel, zu Gott … so wie Jesus? (Ich bin die Tür. Joh. 10,9) Wer am Nachmittag oder gegen Abend in die Andrä-Kirche kommt, kann ein besonderes Lichtspiel genießen.
Flora Neuwirths Magenta-Fenster schenkt einem Teil des Kirchenraumes ein einzigartiges Lichterlebnis. Magenta ist keine Farbe des Regenbogens, also keine Spektralfarbe. Sie entsteht als Variante des Purpurs durch die Mischung von Rot und Blau, ist im natürlichen Lichtspektrum nicht sichtbar. Dieses Fenster eröffnet somit eine übernatürliche, metaphysische Dimension und wird zum symbolischen Begegnungsort mit dem göttlichen Licht, das wärmt.
Noch vieles gäbe es in der Andrä-Kirche zu bestaunen und zu beschreiben, zu viel für einen Artikel und zu viel für einen Besuch. Jedes Mal aber verlasse ich den ruhigen Kirchenraum mit neuen Eindrücken, Gedanken und Energien. Gehe ich zurück in die Geschäftigkeit der Stadt, drehe ich mich noch einmal um und lasse mich von der erfrischend anderen Kirche St. Andrä zum Abschied ansprechen: Am Kirchturm ganz oben lese ich: »Bis bald!«.
Text: Raimund Stadlmann
Bilder: www.andrae-kunst.org