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Die Zehn Gebote

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» ... so war auch, was Mose zu schreiben gedachte, das Kurzgefasste, von solcher Art, dass es als Grundweisung und Fels des Menschenanstandes dienen mochte unter den Völkern der Erde.«

Thomas Mann | Das Gesetz

Die Zehn Gebote gehören in der westlichen Welt zu den bekanntesten Texten, die wir dem jüdisch-christlichen Erbe verdanken. Es wird wohl nur wenige geben, denen sie nicht zumindest im Überblick bekannt sind, egal ob gläubig oder nicht. Natürlich werden wir Christinnen und Christen mit ihnen in unserem Glaubensleben konfrontiert, darüber hinaus finden wir am Buchmarkt aber auch die 10 Gebote der Manager, der Ökologie bis hin zu manch Skurrilem unter diesem Titel. Das mag einerseits verwundern oder sogar befremden, andererseits zeugt dieser Umstand trotzdem von der Bedeutung für unsere Gesellschaft. Da uns heuer in unserem Pfarrverband im Rahmen der Melker Sommerspiele eine kulturelle Auseinandersetzung mit den Zehn Geboten geschenkt ist, möchten auch wir im Koloman darauf blicken und sehen, wie sie uns in der Hl. Schrift begegnen.

In der Bibel selbst ist immer vom »Wort des Bundes« oder vom »Zehnwort« (Dekalog) zu lesen. Interessant ist auch, die Gebote, die mehrheitlich übrigens genau genommen Verbote sind, eignen sich kaum für Rechtsprechung, sondern sprechen eine viel grundsätzlichere Ebene an. Der Dekalog will nämlich ein Ethos, eine Gesinnung, ein Bewusstsein sittlicher Werte darstellen, auf dessen Basis eine Gemeinschaft funktionieren kann. Dies lässt sich sehr schön anhand der biblischen Einbettung der beiden leicht unterschiedlichen Textfassungen in den Büchern Exodus und Deuteronomium nachzeichnen. Wir wollen dabei im Folgenden nicht die Gebote im Einzelnen betrachten, es geht uns mehr um einen Blick aufs Ganze.

Ein Leben in Freiheit mit Gott und dem Nächsten

Das Buch Exodus erzählt von der Befreiung Israels aus Ägypten und vom Weg in das gelobte Land unterder Führung des Mose. Nach drei Monaten abenteuerlicher Wanderung, in denen sich Gott etwa durch das Manna-Wunder schon segensreich für Israel erwiesen hat, kommt die Schar in der Wüste Sinai an. Mose erhält den Auftrag, die Israeliten auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten, denn nun möchte JHWH zum Volk direkt sprechen und nicht über den Mittler Moses. Auf fulminante Weise, begleitet von schweren Wolken, Hörnerschall, Donner und Blitz (Ex 19,16), erscheint der Herr. Es ist das erste und einzige
Mal im Buch Exodus, dass Gott direkt zu den Israeliten spricht und dadurch seiner Offenbarung ein noch größeres Gewicht verleiht. »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.« (Ex 20,2), so beginnt Gott seine Rede. Mit diesen Worten begegnet nicht ein jenseitiger Gott, der nichts mit der Welt zu tun haben will, sondern ein Gegenüber, das in Dialog tritt. Schon das Wörtchen »dein« verrät, dass hier ein »Ich« mit einem »Du« in Beziehung treten will und einen Dialog beginnt. So wird bereits mit diesen ersten Worten ein Raum für eine persönliche Beziehung geöffnet und an die schon erfolgte gemeinsame Geschichte erinnert, denn Gott selbst habe die Israeliten »aus dem Land Ägypten geführt«. Es ist also kein Unbekannter, der nun etwas zu sagen hat, sondern einer, der dem Volk Israel bekannterweise Gutes will. Wenn Gott nun den Israeliten die einzelnen Gebote und Verbote nennt, dann stellt er nicht einfach sein Strafgesetzbuch vor. Gott kleidet damit vielmehr einen Raum der Freiheit aus, den er selbst durch die Befreiung aus Ägypten geöffnet hat. Wer sich nun an diese Gebote bindet, ermöglicht ein Miteinander in Freiheit mit Gott und Mensch. Was auf den ersten Blick als Einschränkung missverstanden werden kann, entpuppt sich so als Ermöglichung eines Lebens in Freiheit. Die Zehn Gebote, das Gesetz, sind somit Ausdruck der Liebe, die von Gott bis zu den Mitmenschen reicht. Sie ermöglichen ein segensreiches Miteinander. Wohl nicht von ungefähr bilden die Worte „Ich bin der Herr“ (V.2) und „dein Nächster“ (V.14) daher den Rahmen für die „Worte des Bundes“ im Buch Exodus.

Die Freiheit hat Zukunft

Im Buch Deuteronomium können wir die Auflistung der Zehn Gebote ein zweites Mal finden. Im Wesentlichen sind die Vorschriften gleich, auch wenn sich ungefähr 20 Unterschiede entdecken lassen. Auffallend ist wohl, dass in der Dtn-Fassung das Sabbatgebot eine zentralere Rolle spielt und hier mit der Erinnerung an die Exodus Erfahrung in Verbindung gebracht wird, wenn das Ruhegebot auf alle Menschen ausgeweitet wird, auch auf sonst üblicherweise Rechtlose: „Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass dich der Herr […] herausgeführt hat.“ (Dtn 5,14f.) Diese Weitung des Blickes erfährt aber noch eine zweite Öffnung. Denn Mose schließt seine Rede mit einem kleinen, doch bemerkenswerten Hinweis darauf, wie er von Gott die Zehn Gebote erhalten habe: „Er [Gott] schrieb sie auf zwei Steintafeln und übergab sie mir.“ Dadurch kann der Dekalog also nicht nur für die gesamte damalige Gesellschaft gelten, sondern auch für die zukünftigen Generationen gesichert sein, denn was in Stein gemeißelt ist, hat ewig Bestand. Etwas später (Dtn 10,2) werden wir davon lesen, der Dekalog wird in der Bundeslade aufgehoben. Auch das zeigt uns, wie sehr diese Gebote Gottes auf die Zukunft hin ausgelegt sind.

Der Segen der Freiheit

Blicken wir nun in der Zusammenschau auf die beiden biblischen Fassungen des Dekalogs, so zeigt sich uns, dass die Gebote und Verbote, die Gott am Sinai/Horeb seinem Volk geschenkt hat, uns nicht eingrenzen wollen oder eine Tür zuschlagen. Vielmehr wird sich denjenigen, die sich darauf verpflichten, ein Raum der Freiheit und des guten Miteinanders öffnen. Die Zehn Gebote engen uns nicht ein, sie ermöglichen ein Leben in Freiheit, sie eröffnen Räume für ein eigenverantwortliches Tun und lassen Platz für mich, aber auch für den anderen. Sie schützen vor Übergriffen und Egoismus. Die Zehn Gebote sind dann Ausdruck der Liebe und Gnade Gottes, in anderen Worten: Sie sind uns ein Segen.

Text: Raimund Stadlmann
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