die Mutter aller Tugenden
Als meine Frau und ich Ende Oktober nach Berlin reisten, besuchten wir auch das KaDeWe, Berlins größtes und bekanntestes Kaufhaus. Auf mehr als 60.000 Quadratmetern präsentiert es ein umfangreiches Warenangebot mit Begehrtem aus aller Welt – von den aktuellen Modetrends der internationalen Laufstege bis zu exotischen Früchten der Südsee. Eine Überfülle an Waren, die da angeboten werden. Und mein erster Gedanke war: Wer soll das alles kaufen? Brauchen wir tatsächlich das alles und wie viel davon?
Eine Frage, die sich eigentlich in vielen Bereichen stellt: Wie viel ist passend oder unpassend? Wie viel Geld, Arbeit, Freizeit, Erholung, Essen, Trinken, Bewegung, Konsum, Technik, Kritik? Jeden dieser Themenaspekte könnte man mit vielen Beispielen füllen, die ich nicht näher ausführen möchte, haben Sie doch alle Ihre eigenen Erfahrungen damit. Fest steht aber, dass wir heute zu großen Teilen maßlos konsumieren, maßlos Sport betreiben, Ernährung zur Ersatzreligion machen und maßlos be- und verurteilen.
Denken wir dabei an die zur Unsitte gewordenen unkritischen, aggressiven, provozierenden und menschenverachtenden Postings im Internet, die niemand verdient hat. Immer häufiger scheint es, dass uns das »richtige Maß« abhanden gekommen ist. Auf der anderen Seite wird uns immer mehr bewusst, dass wir in vielen Bereichen umdenken, unsere Blickrichtung ändern müssen. Dass beispielsweise das Ziel des Wirtschaftens nicht sein kann, unbegrenztes Wachstum zu generieren, sondern wir auch auf Wahrung des ökologischen Gleichgewichts auf Erden zu achten haben. Dass wir uns immer wieder folgende Fragen stellen müssen: Verbrauchen wir nicht unnötig zu viele Ressourcen? Sind ein paar Hundert Millionen Web-Seiten nützlich oder überflüssig? Wie viel Menge ist noch überschaubar, und wie wählen wir aus, was für uns passt? Was ist das richtige Maß?
Dass zunächst eine klare Antwort nicht leicht zu geben ist, liegt daran, dass das richtige Maß im Prinzip keine starre Größe ist. Was für den einen oft passt, ist dem andern vielleicht zu viel oder zu wenig. Gibt es vielleicht sogar den Punkt, wo das richtige Maß beim Verzichten nicht mehr stimmt, weil z.B. zu viel reduziert wurde? Sie sehen, es geht dabei immer um das persönliche Ausbalancieren und um eine ehrliche Antwort auf die Frage: Wo und wann ist der Punkt erreicht, wo etwas nicht mehr passt, wo die innere Mitte vielleicht verloren gegangen ist, das Maß voll ist?
Wenn wir aufmerksam in uns hineinhören, merken wir auch, wann dieses persönliche Maß nicht mehr passt. Wenn wir beispielsweise aufgrund von Überarbeitung (Arbeitsmaß passt nicht mehr) nur mehr gestresst sind. Oder wenn uns die Langeweile plagt und wir antriebslos werden, weil uns eine sinnvolle Aufgabe oder Herausforderung fehlt. Wenn wir in unserer schnelllebigen Gesellschaft nicht mehr wahrnehmen, dass manches Zeit zum Wachsen und Reifen braucht. Wer mit Hochgeschwindigkeit durchs Leben rast, übersieht oft zu vieles. Oder wenn wir mit nichts mehr zufrieden sind und immer nur mit Neid auf jene schauen, die mehr haben. Mit welchem Maß messe ich da? Was tut uns da noch gut?
Ich möchte Ihnen als Hilfestellung für die Beantwortung dieser Fragen ein benediktinisches Grundprinzip anbieten, das der hl. Benedikt in seiner Regel die »Mutter aller Tugenden« bezeichnet: die discretio, d.h. die maßvolle Unterscheidung. Dabei geht es weniger um moralische Appelle als um einen Weg zu einem gesunden, wertvollen Leben. Dazu möchte ich Ihnen folgende zwei Bücher empfehlen: Anselm Grün »Die Kunst, das rechte Maß zu finden« und Anselm Bilgri »Finde das rechte Maß«, die darin wertvolle Gedanken zum Thema Maßhalten sehr anschaulich und für heute verständlich ausgeführt haben. Für Anselm Grün hängt das rechte Maß mit einer guten Balance zwischen den verschiedenen Polen zusammen, die unser Leben ausmachen (z.B. Balance zwischen Selbstentwertung und Hochmut, das richtige Maß zwischen Geben und Nehmen, zwischen Arbeit und Freizeit finden. Wichtiges vom Unwichtigen trennen, achtsam sein und Maßhalten mit den eigenen Kräften, sich auf das Wesentliche besinnen…)
Das Gefühl für das rechte Maß illustriert Anselm Bilgri in seinem Buch anhand einer Geschichte von Leo Tolstoi, die ich Ihnen hier kurz zum Nachdenken wiedergeben möchte.
Ein armer Bauer hat kaum das Nötigste zum Leben. Da erlaubt ihm eines Tages ein reicher Grundbesitzer, so viel Land zu erhalten, wie er in der Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu Fuß umschreiten kann. Aber er muss, bevor die Sonne untergeht, wieder an dem Punkt angekommen sein, an dem er morgens losgegangen ist. Zunächst ist der Bauer überglücklich, weil er bei Weitem nicht den ganzen Tag brauchen wird, um so viel Land zu umwandern, wie er zu einem reichlichen Lebensunterhalt braucht. So geht er frohen Mutes los, ohne Hast mit ruhigem Schritt. Doch dann gewinnt die Verlockung, möglichst viel von dem Land zu umrunden. Er malt sich aus, was er alles mit dem neu gewonnenen Reichtum anfangen könnte. So geht er in einem großen Kreis weiter, um noch mehr Land zu gewinnen. Sein Schritt wird schneller, sein Blick gieriger, Angstschweiß bedeckt seine Stirn. Mit allerletzter Kraft erreicht er beim Untergang der Sonne den Ausgangspunkt. Ein riesiges Stück Land gehört nun ihm - doch da bricht er vor Erschöpfung zusammen und stirbt. Es bleibt ihm jenes winzige Stück Erde, in dem er beerdigt wird; mehr braucht er jetzt nicht mehr.
Das richtige Maß suchen und finden – Fasten einmal anders.
Autor: August Brückler
Bilder: © AdobeStock_168948786.jpeg
©AdobeStock_118022990.jpeg