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»Wandlung - Religionen und Kirchen inmitten kultureller Transformation«

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»Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben einen Wandel der Ära.«

Papst Franziskus

Der Wiener Universitätsprofessor (1984 bis 2008) für Pastoraltheologie und Religionssoziologie, Dr. Dr.
Paul Michael Zulehner, hat unter dem Titel »Wandlung – Religionen und Kirchen inmitten kultureller
Transformation« eine neue Studie vorgelegt.

Seit 50 Jahren (1970 – 2020) erforscht er, was Österreicherinnen und Österreicher über Religion denken und ob sie sich selbst als religiös verstehen. Über 12000 Menschen wurden in diesen 5 Jahrzehnten befragt, und immer wieder – im 10 Jahres-Rhythmus - wurde die Studie aktualisiert, zuletzt Anfang dieses Jahres.

Sein Befund: Seit vielen Jahrzehnten verlieren die traditionellen Kirchen Anhänger. Viele meinen, diese Entwicklung hänge mit der Modernisierung und Säkularisierung zusammen, die immer weitere Teile der Bevölkerung erfasst habe. Zulehner diagnostiziert eine Abkehr von den organisierten Religionen, nicht aber von religiösen Vorstellungen und Hoffnungen. Die Gesellschaft wird nicht säkularer, sondern bunter. Er spricht von einer »Verbuntung«, einem Bunt-Werden der religiösen Landschaft. Denn fast die Hälfte der sich nicht als religiös bezeichnenden Menschen schließt den Glauben an einen Gott oder an ein höheres Wesen nicht aus. Wir haben gelernt, so Zulehner, »modern« sein heißt »gottlos« sein, d.h. »säkular«.

Die Umfragedaten und Fakten sprechen dagegen. Man kann ein Land, in dem 74 Prozent der Menschen sagen: »Ich glaube an irgendein höheres Wesen.« oder »Ich glaube, dass es schon irgendetwas gibt.«, nicht als gottlos bezeichnen. Der Anteil eindeutig atheistisch denkender Menschen ist seit 1970 nicht gestiegen. Er liegt etwa bei einem Drittel der Bevölkerung. Atheisten sind in der Regel der festen Überzeugung, dass es keinen Gott gibt und nach dem Tod alles aus ist, dass es also keinerlei Weiterexistenz oder Auferstehung gibt.

Dieser Gruppe gegenüber gibt es weiters ein Drittel, das sich an den Erzählungen der Christen orientiert, und ein Drittel von Menschen, die mit den Bildern »Tod« und »Auferstehung von Leib und Seele« nicht wirklich etwas anfangen können, aber trotzdem Hoffnung über den Tod hinaus haben. Diese beiden Gruppen zusammen bilden eine deutliche Mehrheit in unserer Gesellschaft.

Zulehner sieht zwischen diesen Gruppen eine deutliche Polarisierung in unserer Kultur. Lebensglück gilt es schnell zu vermehren, denn die Zeit eines befristeten Lebens ist knapp, und man ist wenig bis gar nicht gewillt, die wenigen Chancen auf Glück im Leben mit anderen zu teilen. Und wenn mit dem Tod definitiv alles aus ist, warum sollen sich Menschen diese Phase des Sterbens in das Nichts hinein überhaupt antun? Man könnte diese Phase »outsourcen«, d.h., »wegschneiden«, manchmal sogar mit Unterstützung von außen.

Die Österreicherinnen und Österreicher suchen aber mehrheitlich immer noch das Religiöse, eine andere Art Spiritualität, selbst dann, wenn sie offiziell noch einer der Kirchen oder Religionsgemeinschaften angehören. Menschen konstruieren sich ihren eigenen religiösen Kosmos mit den jeweils dazu passenden Jenseits- und Gottesvorstellungen.

Ayurveda, Lesen von Horoskopen u.a., es gibt kaum Menschen, die hier nicht Erfahrungen gesammelt haben in ihrem Leben. Etwas Neues, einen neuen Raum, eine neue Meditation. Hier ein bisschen Christentum, zu Weihnachten die Mette und dort Tai-Chi oder ein religiös verbrämtes Yoga. Von den Kirchen und Religionsgemeinschaften erwarten sich die Menschen vor allem schöne Rituale zu den wichtigen Lebensabschnittspunkten: Geburt, Ehe und Tod. Zwei Drittel der Menschen wünschen sich zu diesen großen Ereignissen etwas. Die etablierten Kirchen werden aber nicht, so Zulehner, von diesem zunehmenden religiösen Interesse der Menschen profitieren. Kirchen und andere große Religionsgemeinschaften verlieren ihre Gläubigen also nicht an den Atheismus, sondern an eine bunte oder »verbuntete« Religiosität der Menschen.

Die römisch-katholische Kirche als größte Religionsgemeinschaft in Österreich wird von den derzeit 58 Prozent auf das »biblische Normalmaß« schrumpfen, also zu einer kleinen Minderheit werden, prognostiziert Prof. Zulehner. Diese »Verbuntung« der religiösen Landschaft gilt es als Chance zu sehen: Die bewusste und freie Entscheidung für den Glauben wird immer wichtiger und ist grundsätzlich sehr positiv.

Die katholische Kirche spürt die Auswirkungen des Trends zur weltanschaulichen Pluralisierung bereits seit Jahren. Die Kirchenaustritte sind Ausdruck einer wachsenden Distanz gegenüber Institutionen, von der die Kirche genauso betroffen ist wie Parteien, die Gewerkschaft und andere Großinstitutionen. Eine Umkehr dieser Entwicklung bedürfte grundlegendster Reformen in der katholischen Kirche. Ob das noch gelingen kann, bleibt zu hoffen.

Viele, die aus der Kirche austreten, bleiben offen für den Glauben. Und es treten Menschen auch wieder in die Gemeinschaft der Glaubenden, in die Kirche, ein. Die Kirche muss ein einladender Ort für alle Menschen sein, wo sie Sinn und Halt, Kraft und Zuspruch für ihr Leben durch einen lebendigen Glauben erfahren können.

Dass Pluralität und Mobilität die Kirche in Österreich nicht schwächen, sondern auch bereichern und wachsen lassen, zeigt die wachsende Zahl an Christinnen und Christen mit Mitgrationshintergrund. Rund 500 000 Katholiken (Zählung vor Ausbruch der Corona-Pandemie), von denen rund zwei Drittel aus europäischen Ländern stammen, feiern und leben Sonntag für Sonntag ihren Glauben in mehr als 30 Sprachen.

Religiöse »Verbuntung« und ein Mehr an Freiheit bieten auch viele Chancen, die es kreativ und konstruktiv zu nützen gilt. Eine wirkliche »Wandlung« in den Antworten der Institution Kirche auf konkrete Fragen und Forderungen der Menschen ist Gebot der Stunde. Eine »Wandlung«, durch die es für alle Menschen möglich werden kann, dass in der Gemeinschaft der Glaubenden eine Atmosphäre und ein Geist erfahrbar und spürbar sind, welche über unsere Zeit und Wirklichkeit hinaus verweisen, die an etwas Höheres glauben lassen, ja, wo erfahrbar wird, wie Christinnen und Christen es seit Jahrtausenden verkünden, dass Gott, der ICH BIN, DER FÜR EUCH DASEINENDE, ist.

L I T E R ATUR :
Paul M. Zulehner
WANDLUNG
Religionen und Kirchen inmitten kultureller Transformation
Ergebnisse der Langzeitstudie
Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020
Grünewald-Verlag 2020

Text: P. Lukas Roitner
Bild: © AdobeStock_218828544.jpeg