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»Aus Kleinem wird Großes«

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Vielleicht haben Sie sich schon oft darüber gewundert, was mich immer wieder fasziniert: wenn mitten auf einem Gehsteig ein zartes Löwenzahn-Pflänzchen sprießt, das den festen Boden förmlich aufgesprengt hat. Und staunend, ja bewundernd frage ich mich: Wie kann etwas, das sich so leicht pflücken lässt, gleichzeitig so viel Kraft ausüben, dass es sogar den Asphalt sprengt?

Die Erfahrung, dass aus einem winzig kleinen Samen Großes entstehen kann, etwas zum Blühen kommt oder wieder neu aufblüht, ist auch in vielen biblischen Texten präsent. Obwohl sie in verschiedenen Kontexten verwendet werden, stehen sie immer für das Neue, Lebensschaffende, das Menschen zu verschiedenen Zeiten in ihrer Geschichte mit Gott erfahren haben. Ein paar konkrete Beispiele aus dem AT und NT mögen das illustrieren:

Bereits in der Schöpfungserzählung heißt es: »Da sprach Gott: Die Erde lasse junges Grün sprießen, Gewächs, das Samen bildet, Fruchtbäume, die je nach ihrer Art Früchte tragen, mit Samen darin auf der Erde. Und es geschah so.« (Gen 1,11)

Und der Psalmist vergleicht einen gottesfürchtigen Menschen mit einem kraftvollen Baum, »gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit« (Ps 1,1). Auch beim Propheten Jeremia finden wir eine Parallelstelle mit einem ähnlichen Wortlaut; »Gesegnet ist der Mann, der auf den HERRN vertraut und dessen Zuversicht der HERR geworden ist! Denn er wird sein wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und seine Wurzeln am Bach ausstreckt … und er hört nicht auf, Frucht zu bringen.« (Jer 17,7-8)

Der uns am meisten vertraute Text ist wohl jene Verheißung des Propheten Jesaja, in der er die Geburt des Messias von einer Jungfrau ankündigt (7,14); in Vers 9,5 formuliert er konkret: »Ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt«, der zugleich Friedensfürst und starker Gott ist. Und im Vers 11,1 verwendet er die Sprossmetapher für das Erscheinen des Messias: »Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.« Für den Propheten wird also ein unauffälliger kleiner grüner Zweig, der aus dem Holz sprießt, zu einem Sinnbild für die Zukunft. Mit einem Kind, dem verheißenen Messias, der aus dem Geschlecht Davids stammt, wird Neues möglich. Das Matthäusevangelium greift dieses Motiv auf und zieht von Isai eine Abstammungslinie über König David bis zu Josef (Mt 1,16).

Auch das beliebte Weihnachtslied »Es ist ein Ros entsprungen« nimmt ebenfalls auf diesen Vers Bezug und möchte uns damit verkünden, dass Jesus Christus wirklich der verheißene Messias und der Sohn Davids ist. Mit dem Wort »Ros« hat sich der unbekannte Dichter aber eine kleine Freiheit erlaubt. Richtig müsste es nämlich nicht »Ros« heißen, sondern »Reis«. Im alten Sprachverständnis ist ein Reis nämlich ein Zweiglein, heute ist übrigens die Bedeutung noch erhalten im Wort »Reisig« oder »Reiser« (Plural zu Reis »dünner Zweig«). Wie auch immer. Die katholische Tradition deutet Jesse als die Wurzel, Maria als Rosenstock, der aus der Wurzel sprießt, und das Jesuskind als »Blümlein«. 

Das Motiv, dass aus einem winzigen Samen Großes erblühen kann, begegnet uns auch in der Verkündigung Jesu. Denken wir nur an die vielen Gleichnisse, in denen er vom Reich Gottes spricht. Das Gleichnis vom Senfkorn sei hier exemplarisch erwähnt. »Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mann auf seinen Acker säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern; sobald es aber hochgewachsen ist, ist es größer als alle anderen Gewächse und wird zu einem Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten« ( Mt 13,31– 32). In gewisser Hinsicht erinnert das Senfkorn-Gleichnis an das »Reis«, das aus dem Stumpf wächst. Da keimt etwas auf und blüht, aus Kleinem entsteht Großes und Unerwartetes. Das Bild des Senfkorns leitet uns auch dazu an, Visionen einer möglichen besseren Welt zu entwerfen und zeigt, dass Hoffnung im Verborgenen wächst und dass man auch in unscheinbaren Dingen etwas Großes erhoffen kann.

Und als die Jünger ihn einmal um einen größeren Glauben bitten, antwortete ihnen Jesus: »Wäre euer Glaube auch nur so groß wie ein winziges Senfkorn, ihr könntet einem Riesenmaulbeerbaum befehlen ‚Reiß dich aus der Erde und verpflanze dich ins Meer!‘« und es würde sofort passieren“. (Lk 15,5-10). Sie bitten ihn also darum, sie im Gottvertrauen zu bestärken. Sie bitten ihn um einen Glauben, der durch nichts zu erschüttern ist. Und deshalb werden sie von ihm zurückgewiesen mit dem Hinweis, bereits ein winziger Glaube genüge, um Erstaunliches zu bewirken. Jesus will ihnen und uns heute einen anderen Blick eröffnen: Es kommt nicht auf die Kleinheit oder Größe meines Glaubens an, sondern auf mein grundsätzliches Gottvertrauen. Und das kann sich auch vom winzigen Körnchen noch zu einem mächtigen Baum entwickeln. Wir können Gott immer mehr vertrauen, der Mensch geworden ist, damit wir selber mehr Mensch werden können.

Wenn wir also auf unseren Spaziergängen ein kleines Pflänzchen sprießen sehen, dann dürfen wir daran denken, dass es sich lohnt, mit dem Glauben klein anzufangen. Auch ein schwacher Glaube kann auf einen starken Gott vertrauen, der sogar stärker ist als der Tod. Und das Wunder der keimenden Saat kann uns an die Wahrheit erinnern: Wo Gottes Kraft wirkt, da können die Möglichkeiten noch so wenig sein, die Kräfte noch so gering, es kann unvorstellbar Großes daraus werden. Eine schöne Hoffnungsbotschaft für die Weihnachtszeit 2022 und darüber hinaus.

Text: August Brückler 
Quelle: https://www.academic-bible.com/en/keyword/30226/
Bild: © AdobeStock_444573422.jpeg