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»Augenblick - ein biblischer Befund«

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Aus Erfahrung wissen wir: Augenblicke im Leben, die man bewusst und achtsam wahrnimmt, in denen oft auch Entscheidungen fallen, können manchmal unser Leben völlig verändern. Um biblische Spuren zu diesem Thema zu finden, lohnt es sich, zunächst einmal beim biblischen Zeitbegriff anzusetzen. Das Griechische kennt zwei Begriffe für Zeit: chronos und kairos. Sie leiten sich her von der griechischen Mythologie. Der griechische Gott Chronos, Vater des Zeus, steht für den tickenden Sekundenzeiger. Kairos hingegen, der jüngste Sohn des Zeus, ist der Gott des rechten Augenblicks. Kairos ist demnach die »besondere Stunde«, der »richtige Zeitpunkt«, den man erkennen und nicht verpassen sollte. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Bild eines Adlers. Scheinbar schwerelos schwebt er in geringer Höhe, über einem Meer von Möglichkeiten und hält Ausschau nach Beute. Hat er sie erspäht, packt er sie blitzschnell im Flug und fliegt mit ihr davon. Und Jeder von uns weiß auch: Wenn man gute und reife Marillen aus der Wachau ernten will, muss man den »richtigen Zeitpunkt« dafür abwarten. Pflückt man sie zu früh, sind sie unreif und sauer, pflückt man sie zu spät, sind sie überreif und matschig. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass wir den »richtigen Zeitpunkt« für Entscheidungen erkennen und dann den »Mut« haben, danach zu handeln. Das lehren uns auch alle großen Religionen, die uns immer wieder auf den Wert des gelebten Augenblicks hinweisen. Im jüdischen Talmud heißt es beispielsweise: »Wo, wenn nicht hier? Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?«
In der Bibel steht das Wort Kairos für die besondere Zeit im Leben eines Menschen. Oft sind es Momente, die dauerhafte Veränderungen bringen. Denken Sie nur an Abraham. Auf den Ruf Gottes hin »Geh aus deinem Land … in das Land, das ich dir zeigen werde« (Gen 12,1), geht Abraham gehorsam los, obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde. Aber er vertraute Gott und das reichte ihm.

Sehr bekannt ist auch das Gedicht »Alles hat seine Zeit«, das der Weisheitslehrer Kohelet um das Jahr 180 vor Christus verfasst hat (Koh 3, 1-11). Da der Mensch, so der Prediger, das Geheimnis des Lebens nicht durchschauen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als alles von Gott Geschaffene anzunehmen und die Aufgabe auf sich zu nehmen, den jeweiligen Augenblick als den entscheidenden zu verstehen. Im Neuen Testament hat der Kairos eine große Bedeutung. Schon das erste Wort, dass Jesus im Markusevangelium spricht, lautet: »Die Zeit (kairos) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe« (Mk 1,15). Zeit ist also immer jener Augenblick, in dem wir Gott begegnen, in dem Gott uns seine Nähe zeigen und seine Zuwendung schenken möchte. Unsere Aufgabe ist es, uns auf diesen Augenblick einzulassen. Manchmal sind solche Begegnungen unspektakulär. Und manchmal sind sie lebensverändernd. Wie bei Maria. Einen Augenblick lang wird sie konfrontiert mit der Botschaft des Engels. Und dieser Moment veränderte ihr ganzes Leben. Sie ließ sich ein auf ein unübersehbares Abenteuer: den Sohn Gottes auf die Welt zu bringen, ihn als Mutter zu erziehen und bis zu seinem Tod zu begleiten.

Und als Jesus vom Ufer des Sees Genezareth aus sah, wie Petrus und Andreas ihre Netze auswarfen, rief er beide zu sich und forderte sie auf, ihm nachzufolgen, er werde sie zu Menschenfischern machen (Mt 4,19). Diese Begegnung war für die beiden Brüder der Auslöser einer Lebenswende. Sie ließen ihre Netze zurück und gingen mit ihm. 
Und in den Heilungsgeschichten wurden Jesusbegegnungen für viele Menschen zum Kairos, zu einer Chance, in der sie Gottes heilende und befreiende Kraft erfahren durften. Das geschah zum Beispiel bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus oder der gekrümmten Frau. Im Augenblick der heilsamen Berührung wurde neue Lebensenergie freigesetzt und sie vermochten sich beide wieder aufzurichten. Oder denken Sie an die blutflüssige Frau, die Heilung erfährt, als sie auch nur den Saum des Gewandes Jesu berührt. Gerade solche Heilungsgeschichten zeigen, welche »Dynamik« dabei in Gang kommt.

Auch die Erzählung von Zachäus (»Komm schnell herunter!«) zeigt, dass man den richtigen Augenblick nicht versäumen darf. Und wenn es im Epheserbrief heißt . »Kauft die Zeit (den kairos) aus« (Eph 5,6), so fordert uns Paulus dazu auf, die Zeit, in der wir leben, sinnvoll zu nützen. Seine eigene Bekehrungserfahrung stellt einen Kairos in Extremform dar: Ohne Vorwarnung trifft ihn Gott wie ein Blitz, streckt ihn zu Boden und blendet ihn. Gottes Befehl »Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst« befolgt er und begibt sich nun in jene radikale Nachfolge, zu der Gott ihn ruft.

Die Wichtigkeit und den Ernst des Augenblicks zu erkennen, heißt eigentlich in biblischer Sprache »Wachsam sein« – für das, was das Leben, was letztlich Gott selbst von uns verlangt. »Seid wachsam, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde (Mt 25,13).« Dass wir uns bemühen sollen, den gegenwärtigen Augenblick zu nutzen, unterstreicht auch Jesu Einladung zu einem Leben ohne falsche Sorge: »Sorgt euch nicht um morgen: denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage.« (Mt 6,34)
Nur die Gegenwart ist unser ganzer Reichtum. Nur die bewusst gelebten Augenblicke gehören uns. Im Gebet, das Jesus uns selbst gelehrt hat, verweist er nachdrücklich auf diese Gegenwart, wenn er uns lehrt, um das Brot für heute zu bitten. Einen wichtigen Gedanken von Chiara Lubich aus ihrem Buch »Vom Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks«, das ich Ihnen zur Lektüre empfehlen kann, möchte ich Ihnen abschließend noch mitgeben:
»Dass es uns zur Gewohnheit wird, die Gegenwart gut zu leben, müssen wir lernen, die Vergangenheit hinter uns zu lassen und uns nicht von Sorgen um die Zukunft gefangennehmen zu lassen. Das ist eine allgemeine Lebensweisheit, denn die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft aber wird sein, wenn sie Gegenwart geworden ist.« (S.52)

Text: August Brückler
Quellen: Sandler Willibald, Nutzt den Kairos!, Innsbruck: Innsbruck University press 2013 Chiara Lubich, Vom Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks, Verlag Neue Stadt 2005.
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