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»Warten und Schauen«

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...ein Sommertipp

In den letzten Monaten war ich oftmals gezwungen, meine Zeit in den Warte- und Behandlungsräumen verschiedener Ärztinnen und Ärzte zu verbringen. Selten war ich dabei alleine und mir ist etwas aufgefallen, was ich auch schon anderswo (z.B. in Zügen, auf öffentlichen Plätzen, … ) bemerkt habe. Ist nichts los und man muss auf etwas warten, vertreibt man sich die Zeit gewöhnlich damit, aufs Handy zu starren. Was die Leute dabei genau tun, kann ich natürlich nicht sagen, aber ich gehe davon aus, dass die Bandbreite von Online-Zeitung lesen über Nachrichten versenden bis zum Spiele spielen geht. Das ist natürlich nichts Verwerfliches, ich mache das teilweise ja auch, doch ich versuche mittlerweile immer häufiger, die Zeit anders und damit zu füllen, wofür sie gedacht ist: mit Warten und Schauen.

Ich habe nämlich festgestellt, dass ich das nicht gut kann. Warten und schauen, um zu sehen, was um mich herum geschieht, gehört nicht gerade zu meinen Stärken. Wahrscheinlich hat es das nie getan. Nun, da ich aber immer wieder von meinem Körper, genauer von den Bandscheiben, zum Stillstand gedrängt worden bin, habe ich es irgendwann schätzen gelernt. Und so habe ich begonnen, das Handy in der Jacke zu lassen, mir nicht die stille Wartezeit zu vertreiben, sondern sie zu nutzen. Wenn man das bewusst macht, dann fällt einem erst auf, wie viel um einen herum passiert. Man nimmt die Welt und die Menschen um sich herum wahr und bekommt einen Blick auch für die kleinen Dinge.

Wahrscheinlich haben wir in unserer lauten und medial überreizten Zeit zunehmend verlernt, das Alltägliche, Kleine und Leise um uns herum wahrzunehmen und halten die Stille und das Nichtstun gar nicht gut aus. Es ist ja auch in Wahrheit nirgends still, immer hört man irgendwas. Das Schlimmste scheint überhaupt Fadesse zu sein. Gerne beklagen wir zwar die Hektik des Alltags, wenn es aber fad wird, ist es uns auch nicht recht und wir müssen uns eine Tätigkeit suchen. »Stillstand ist der Tod« singt Herbert Grönemeyer irgendwo. Ich bezweifle das mittlerweile.

Im Sommer suchen viele Erholung und Rückzug vom oft turbulenten Alltag. Die Urlaubszeit bietet dabei eine gute Gelegenheit, sich etwas aus dem üblichen Treiben herauszunehmen, das eigene Tempo zu reduzieren und bewusst die Abwechslung und Stille zu suchen. Nicht zwangsläufig muss man das in der Ferne tun, das geht auch daheim. So bietet die sommerliche Freizeit vielleicht auch einmal die Gelegenheit, seinen Hobbys nachzukommen, die man übers Jahr ein wenig vernachlässigt. Ich lese dann gerne ein paar Bücher, die ich mir schon lange vorgenommen habe. Da versinke ich stundenlang in den Tiefen zwischen den Buchdeckeln und reise zu den entlegensten Orten, löse die spannendsten Kriminalfälle oder leide und freue mich mit den Heldinnen und Helden der Literatur mit. Es ist für mich eine richtige Genusszeit, in der ich dann so richtig weg bin und doch nur in der Hängematte im Garten liege. Wo ich da schon überall gewesen bin! Denn: »Dichtung ist eine Trittleiter zwischen den Jahrhunderten, vom antiken Griechenland bis morgen Nachmittag.« (Benjamin Myers: Offene See) Welche Reise könnte das sonst bieten? Die Bücherwürmer unter Ihnen kennen die Antwort.

Was dem einen die Literatur ist, sind der anderen vielleicht Wald, Wiesen, Seen und Berge. Die Natur ist für uns eine unerschöpfliche Kraftquelle, die viele gerne an ihren freien Tagen oder in der Urlaubs– zeit nutzen. Sei es durch die Beschäftigung im eigenen Garten, was sich ungebrochener Beliebtheit erfreut, oder durch sportliche Betätigung. Durch die Bewegung in der Natur fühlen wir uns lebendig und schöpfen Energie. So wird sie uns dann zu einer wertvollen Tankstelle und gleichzeitig lernen wir sie als Schöpfung Gottes immer wieder neu schätzen und respektieren. Wir erfahren uns bei einem gemütlichen Spaziergang von der Schönheit unserer Welt beschenkt und sind begeistert von den zahlreichen kleinen Wundern, die wir dabei entdecken. Die Natur lehrt uns ebenfalls Bescheidenheit, wenn die Gartenpflanzen trotz unserer Pflege doch nicht so wachsen, wie wir das wollen, oder wenn uns beim Wandern der Anstieg die letzten Kräfte abverlangt.
Was auch immer wir in der Natur tun, sie bewegt uns und etwas in uns gerät in Bewegung, weil wir durch sie dem Alltag und manchmal auch den Sorgen entfliehen können. Diese Augenblicke als bloße Zerstreuung zu verstehen, wäre aber meiner Ansicht nach ein Missverständnis. Vielmehr können uns diese Stunden in der Natur davon befreien, was uns einengt, und wir entdecken neue Aus-Wege. Etwas in uns bewegt sich, weil wir ihm Raum und Zeit geben und eben nicht abgelenkt sind. Als leidenschaftlicher Radfahrer gefallen mir in diesem Zusammenhang besonders jene Worte, die der französische Anthropologe Marc Augé in seinem Essy »Lob des Fahrrads« niedergeschrieben hat: »Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie, er ist ein schöner Ausreißversuch, die spürbare Freiheit. Innerhalb weniger Sekunden befreit sich der begrenzte Horizont und die Landschaft gerät in Bewegung. Ich bin anderswo. Ich bin ein anderer; und dennoch bin ich so sehr ich selbst wie sonst niemals; ich bin, was ich entdecke.« Ich denke, Gleiches lässt sich von vielen Aktivitäten in der Natur sagen.

Das Leben hält für uns immer wieder Auszeiten bereit. Sie können uns z.B. durch körperliche Herausforderungen aufgezwungen werden oder selbst gesetzt sein, wenn wir Urlaub machen. Suchen wir nicht die schnelle Zerstreuung, sondern gestalten wir sie bewusst, können wir die Welt und uns selbst neu entdecken. Viele Wege sind da möglich, die Beschäftigung mit Kunst und Kultur, die Bewegung in der Natur… manchmal genügt es, Ruhe zu geben, also: Warten und Schauen.

Text: Raimund Stadlmann
Foto: © AdobeStock_159558722.jpeg