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»Der Blinde von Jericho«

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Wenn wir das Wirken Jesu anschauen, wird eines immer sichtbar: sein achtsamer, wertschätzender und befreiender Umgang mit den Menschen. Durch seine Zuwendung und seinen liebenden Umgang ließ er Menschen Gutes erfahren und stärkte ihre Hoffnung auf den guten Gott. Das konnten im besonderen Maß die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten erfahren, um die er sich besonders annahm. Denken wir nur an die vielen Begegnungen mit Aussätzigen, Kranken, Armen, Behinderten, Frauen und Kindern. Auf der anderen Seite hatte er auch keine Berührungsängste mit den Schriftgelehrten, mit denen er sich kritisch auseinandersetzte, und auch Reichen, bei denen er oft eingeladen war und mit denen er feierte, aß und trank. Ihnen allen begegnete er respektvoll als wertvolle Menschen. Ohne Vorbehalt, ohne Vorleistung und gleich welchen Standes. Für Jesus war jeder Mensch gleich wertvoll, weil er wusste, dass wir alle Geschöpfe Gottes sind. Sein Umgang mit den verschiedensten Menschen war besonders durch Nähe geprägt. So konnte er Menschen berühren und sich auch von ihnen berühren lassen. Ein konkretes und gutes Beispiel dafür ist die Geschichte von Jesus und dem Blinden von Jericho, den Jesus Christus wegen seines Glaubens heilte (Mk 10,46-52). Ob der blinde Bartimäus im physischen Sinne blind war oder es sich lediglich um eine Art von sozialer Blindheit handelte, spielt hier zunächst keine Rolle. 
Im Fokus soll das besondere Verhältnis Jesu zum blinden Bartimäus stehen: wie er ihn wahrnimmt, auf ihn zugeht und an und mit ihm handelt.

Schauen wir uns die Erzählung einmal genauer an: Jesu zieht mit seinen Jüngern und viel Volk aus der Stadt Jericho hinaus. Am Wegrand sitzt ein Mann namens Bartimäus. Er ist blind und ein Bettler. Als Blinder ist er abhängig vom Wohlwollen seiner Mitmenschen, als Bettler ist er Almosenempfänger und in seiner Existenz bedroht. Ausgestattet mit einem geringen Selbstvertrauen weiß er auch, wo sein Platz in der Gesellschaft ist. Wer blind war, galt damals als »unrein« und wurde aus der Mitte der Städte und Dörfer verbannt. Deshalb sitzt Bartimäus alleine am Wegrand. Wie er hört, dass Jesus vorbeikommt, sieht er die Chance seines Lebens und ergreift sie energisch. Er beginnt laut zu rufen und schreit seine Not Jesus entgegen: »Sohn Davids, hab‘ Erbarmen mit mir!« Er drückt damit seine Hoffnung aus, dass dieser Jesus vielleicht einer ist, von dem er annimmt, dass er ihn anders sieht als die anderen.
Und wie reagiert nun Jesus darauf? Er hört das Rufen des Blinden aus der Menge, bleibt stehen, nimmt seine Not wahr und wendet sich ihm zu, egal ob es der Menge passt oder nicht. Und das ermuntert Bartimäus, sein Schicksal nicht länger zu ertragen. Im vollen Vertrauen auf Jesus, in dem er vielleicht den verheißenen Messias erkennt, bestärkt auch durch die Aufmunterung der Menge, springt er auf, wirft seinen Mantel weg und läuft Jesus entgegen. Welch hochdramatische Szene!

Interessant ist nun auch, dass Jesus den blinden Bartimäus nicht einfach auf die Schnelle heilt, sondern er fragt ihn: »Was willst du, dass ich dir tue?« Warum stellt er ihm so eine Frage, wo er doch sehen kann, was ihm fehlt. Hier wird eine weitere wichtige Haltung Jesu im Umgang mit den Menschen sichtbar. Markus zeigt uns hier einen Jesus, der nicht als Superman handelt, als Wunderwuzzi, sondern bewusst ruhig, bedacht, nicht voreilig, nie übergriffig. Vielmehr achtet Jesus die Würde und den Willen des Menschen. Mit der Frage Jesu, was er für ihn tun könne, zeigt er ihm seine Anteilnahme an seiner leidvollen Situation und gibt ihm die Möglichkeit, in eine persönliche Beziehung zu ihm zu treten. Und Bartimäus hilft diese Frage, seine Not vor Jesus hinzutragen und auszusprechen. »Rabbuni, ich möchte sehen können«, antwortet Bartimäus. Daraufhin sagt Jesus – ohne eine Heilungshandlung zu vollziehen – zu ihm: »Geh, dein Glaube hat dich gerettet.« Dieses »Geh!« lehrt uns: Jesus verlangt von ihm zunächst gar nicht, dass er bei ihm bleibt. Jesus will die Freiheit für jeden Menschen, deshalb handelt er nicht einfach über den Kopf des Bartimäus hinweg. Und vielleicht gerade deshalb schließt sich Bartimäus Jesus an. Aus einer persönlichen freien Entscheidung heraus. Und, so heißt es im letzten Satz unserer Erzählung, »Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.«

Der von der Gesellschaft geächtete blinde Bettler wird durch Jesu wertschätzenden Umgang mit ihm ein Sehender und Nachfolger. Was lässt sich daraus schließen? Dass Jesus nicht nur durch Worte, sondern vor allem in seinem liebenden Umgang mit den Menschen - gerade auch mit den Ausgegrenzten - die Gegenwart Gottes erfahrbar gemacht hat. Was können wir daraus lernen? Dass auch wir Christus anderen Menschen erfahrbar machen können. Im täglichen Leben praktisch dadurch, dass wir unsere Mitmenschen zunächst einmal bewusst wahrnehmen, ihnen unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung schenken und respektvoll, achtsam und liebevoll begegnen. Indem wir empathisch handeln, immer mehr lernen mit dem Herzen zu sehen und selbst mehr Lebensfreude und Hoffnung ausstrahlen, können wir verlässlich von der Liebe Gottes Zeugnis ablegen. Jesu Auftrag: »Ein Beispiel habe ich euch gegeben, dass ihr tut, wie ich euch getan habe.« (Joh 13,15) können wir auch deshalb mutig in Angriff nehmen, weil wir wissen dürfen, dass der auferstandene Jesus dabei an unserer Seite ist und mit uns geht. Diese Gewissheit kann uns helfen, aus der Kraft des Glaubens so eine Haltung anzunehmen und nicht zu resignieren, auch nicht in Zeiten unseres Lebens, wo wir vor lauter Enttäuschungen und Ängstlichkeit mit Blindheit geschlagen sind und dadurch das Wesentliche aus dem Blick verlieren.

Text: August Brückler
Bild: © AdobeStock_546641218.jpeg