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»verwurzelt«

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In den letzten Jahren scheint eine Freizeitbeschäftigung immer beliebter zu werden: die Ahnenforschung. Zahlreiche Männer und Frauen durchforsten Bibliotheken, Archive, Behörden, aber auch verstaubte Dachböden und dunkle Kellerräume daheim und machen sich auf die Suche nach der eigenen sowie familiären Vergangenheit. Vordergründig könnte man meinen, die vielen Hobbyhistoriker*innen seien bloß neugierig und suchten nach sensationellen oder gar dunklen Stellen in ihrer Ahnenreihe, doch tatsächlich steckt dahinter zumeist etwas ganz anderes, etwas viel Tiefergehendes: Es geht um die Auseinandersetzung mit sich selbst. Denn nur wer seine Herkunft kennt und um seine Wurzeln weiß, steht wie ein starker Baum auf festem Boden und kann aus dieser Verwurzelung Kraft und Orientierung finden. Er|Sie muss die Stürme und Wetter der Zeit nicht fürchten.

Naturgemäß ist die Familie der erste Ort, an dem wir Menschen Wurzeln schlagen. In dieser kleinen Gemeinschaft finden wir von Geburt an alles Notwendige zum Leben. Das Hineingeborensein in dieses bedingungslos liebevolle Netz ist uns Halt und Garant für eine gesunde Entwicklung. Die Familie ist sicher unsere wichtigste Lebens-Wurzel, denn in ihr lernen wir zuallererst anderen zu vertrauen, uns selbst etwas zuzutrauen, wir müssen mit Unterschieden umgehen und dürfen uns über Gemeinsamkeiten freuen. Die Familie ist uns Halt, Rückzugsort, Korrektiv, Kraftquelle und noch vieles mehr. Erfahren wir als Kinder (wie als Erwachsene) in dieser für unser Wachsen und Werden so wichtigen Gemeinschaft Verletzungen oder Kränkungen, so kann uns dies jahre- bzw. lebenslang begleiten. Es sind aber nicht nur die hier kurz angesprochenen positiven wie negativen Erfahrungen in der Kleinfamilie, die uns prägen, denn auch die Großfamilie übt oft über Generationen hinweg großen Einfluss auf uns aus. Je älter wir werden, desto mehr wissen wir von unseren Großeltern, Urgroßeltern oder noch früheren Generationen. Aus ihren Geschichten und Erfahrungen verstehen wir manches in unserer aktuellen Familie oft besser und bekommen eine Ahnung, wie tief verwurzelt manches in unserem Leben tatsächlich ist.

Wenn wir gesehen haben, dass unsere Wurzeln zeitlich weit zurückreichen können, dann sollte uns auch bewusst werden, welch breites Wurzelgeflecht wir haben. Denn über die Familie hinaus gibt es noch mehr zu nennen, was uns mit »Lebens-Nährstoffen« versorgt. Wir alle sind auch in eine viel größere Gemeinschaft gestellt und wissen uns (mehr oder weniger) in einem bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Kontext verwurzelt. Wesentlich für unseren Kulturkreis sind sicherlich das jüdisch-christliche Erbe und die römisch-griechische Antike, aus deren Gedankenwelt sich unsere heutige westliche Welt speist. Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Toleranz, Solidarität und Geschwisterlichkeit, Menschenwürde usw. sind auf diesem Boden gewachsen und haben sich über Jahrhunderte zu starken Wurzeln entwickelt. Am Weg durch die Zeiten waren sicherlich auch viele (Ver-)Irrungen dabei, doch auch diese gehören dazu.

Daher können wir hinter geschichtliche Ereignisse, wie wir sie etwa mit Auschwitz verbinden, nicht mehr zurück. Sie gehören zu unseren Wurzeln und prägen auch uns Jüngere für die Zukunft, wie wir in unserer unmittelbaren Umgebung etwa am wichtigen Engagement des Vereins MERKwürdig erkennen. Erinnert sei hier aber noch an eine weitere wichtige Wurzel, die wir leider oft nicht wahrhaben wollen, die aber trotzdem wesentlicher Teil unserer europäischen Welt ist: der Islam. Seit Jahrhunderten ist er auch in Europa lebendig und hat unseren Kulturkreis maßgeblich mitgeprägt. Denken wir nur an das prächtige al-Andalus im heutigen Spanien, den regen Austausch mit Gelehrten aller Wissenschaften (Medizin, Algebra oder optische Linse), die reichhaltige Kunst und Alltägliches wie Kaffee.

Wir sollten uns davor hüten, Trennendes über Gemeinsames zu stellen und diese wertvolle Wurzel zu leugnen. Eine besondere Wurzel gilt es hier noch deutlicher zu nennen, ist sie im Bisherigen doch auch schon mehrmals angeklungen. Im Glauben an den dreieinen Gott, an Jesu Tod und Auferstehung verstehen sich viele von uns verwurzelt – die einen vielleicht mehr, andere scheinbar weniger. In unserem persönlichen Glaubensvollzug finden wir stets Möglichkeiten und eine »Sprache« dafür, mit unseren Gefühlen (Trauer, Schmerz oder Freude) umzugehen. Nicht von ungefähr sitzen die Sakramente an zentralen Lebenspunkten von uns Menschen. Wir wissen uns als Christ*innen eingebunden in eine große Geschwisterschaft, in der wir angenommen sind, so wie wir eben sind. In Gottesdienst | Eucharistie erfahren wir uns in das Geheimnis von Jesu Tod und Auferstehung hineingenommen und begegnen Gott in Wort und Brot. Der Sonntag ist dann tragfähige Unterbrechung des Alltags und somit eine wichtige Wurzel für unser Leben. Lesen wir die Bibel nicht nur als Geschichten von Menschen aus alten Zeiten, sondern öffnen wir uns für die Heilserfahrungen durch Gott dahinter, dann sind uns auch dort kraftspendende Gottesbegegnungen geschenkt. Und das Gebet gibt uns in Gemeinschaft oder ganz privat eine besondere Ausdrucksmöglichkeit, wo gewöhnliche Worte zu versagen drohen, wo Angst, Hoffnung oder purer Dank überwiegen. Wie sehr unser Glaube immer wesentlich im Miteinander unterschiedlicher Menschen und Charismen verwurzelt ist, davon wird an späterer Stelle zu lesen sein.

Nur wenige Bereiche konnten hier angesprochen werden, in denen wir verwurzelt sind: Familie, Menschen- und Gedankenwelt, Glaube. Gemeinsam ist diesen dreien, wie sehr sie uns prägen, berühren und nähren können. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass man sie pflegen muss. Nur wer seine Wurzeln achtet und sich um sie sorgt, wird festen Boden unter sich haben.

Text: Raimund Stadlmann
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