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Alles im Griff!?

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In den Wochen des Spätsommers und Herbstes sind viele von uns immer wieder mit dem Thema der Ernte konfrontiert. Die einen, weil sie das Gemüse oder
die Früchte des Gartens abernten und verarbeiten, die anderen, weil sie zum Beispiel das Getreide vom Feld einbringen.
Auch in den Medien wird das angesprochen, wenn wir davon lesen, dass heuer in der Wachau ein außergewöhnlich gutes Marillenjahr war
oder dass wir uns wohl auch über einen harmonischen Wein-Jahrgang 2019 freuen dürfen.

Andernorts aber haben Trockenheit oder andere Wetterextreme zu Einbußen oder gar zu existenzbedrohenden Ernteausfällen geführt und selbst
als kleine Privatgärtner und -gärtnerinnen kennen wir die Erfahrung des Misserfolges. All diese Erfahrungen zeigen uns Menschen, wir können uns zwar
bemühen und dabei viel Kraft, Energie und Wissen einsetzen, dennoch ist der Ernteerfolg in den Gärten und auf den Wiesen und Feldern nicht garantiert.
Wir haben das letztlich nicht völlig in der Hand, vielmehr fällt uns dies zu einem bestimmten Maße stets auch unvermutet zu.
Ernte ist immer auch Zufall, anders gesagt: Geschenk.

Für dieses uns zufallende Geschenk haben wir in unserem Glauben eine Form des Umgangs gefunden, die diese Vielschichtigkeit vereint.
Wir feiern im Herbst Erntedank. Dieses Fest ist Ausdruck unserer Erkenntnis, wie wenig selbstverständlich Erfolg und
Sicherheit im Umgang mit der Natur sind und dass wir Höhe und Qualität unserer großen wie kleinen Ernten letztlich nicht nur uns selbst verdanken, sondern
Gott, der schützend seine Hand über uns hält und uns zum Leben gibt, was wir brauchen. Im Erntedankfest treten wir in Beziehung zur Welt als Schöpfung
Gottes, lassen uns von ihr berühren und es ist unsere Antwort auf Gaben, die wir als nicht selbstverständlich erkannt haben.

Liegt nicht in dieser Grundhaltung des Erntedankes ein großes Potential für einen generellen Umgang mit unserer modernen Welt, die sich oftmals genau
durchs Gegenteil auszeichnet? Leben wir nicht in einer Zeit, in der wir glauben, alles und jeden im Griff zu haben? Nahezu alle unsere Probleme wollen wir
mithilfe der Technik lösen, von der Medizin und Genetik erwarten wir die Heilung sämtlicher Krankheiten, unsere Körper trainieren und stählen wir in
der Hoffnung auf ewige Jugend, Nahrungsmittel züchten, ja designen wir nach unseren Idealvorstellungen und dank der modernen Medien ist jede Information und
jeder Gesprächspartner permanent für mich verfügbar. Wir haben alles in der Hand, stets griffbereit.

Wie ernüchternd dann unsere Erkenntnis, wenn Dämme den Fluten nicht trotzen können, wenn Krankheiten uns liebe Menschen entreißen, wenn
Jugend auch mit Fitness-App und Botox nicht ewig blüht und Früchte faulen, wenn die vielen Freunde auf Facebook und WhatsApp doch nicht vor Einsamkeit
schützen, wenn Beziehungen zerbrechen.

Bei all den vielen guten und angenehmen Seiten, die unsere moderne Gesellschaft hat, so sitzt sie einem Irrtum auf. Die Wissenschaften, Techniken und Medienmöglichkeiten
haben die Welt eben doch nicht völlig berechenbar, beherrschbar und alles und jeden erreichbar gemacht. Wer das glaubt, hat nicht
verstanden, dass unsere Welt, die Schöpfung Gottes, etwas Lebendiges ist, zu dem wir eine Beziehung aufbauen müssen. Schon der Dichter warnte vor dem
gierigen Griff auf alles: »Die Dinge singen hör ich so gern. / Ihr rührt sie an, sie sind starr und stumm. /Ihr bringt mir alle die Dinge um.«
(R.M. Rilke, Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. 1899)

Nur wem es gelingt, sich von der Welt, von der Natur und den Menschen ansprechen und berühren zu lassen, der kann erkennen, dass nichts davon selbstverständlich
ist, und darin liegt der Keim für einen guten und wertschätzenden Umgang mit der Welt, den Menschen und den Dingen. Wer versteht, dass
Freiheit, Demokratie, Natur, Wohlstand, Sicherheit, Freundschaft, Beziehung, Gesundheit etc. stets auch gefährdet sind, der lässt sich auch vom Schicksal der
Unfreien, Kranken, Armen und Einsamen berühren.
Wer weiß, dass wir nicht alles beherrschen können, wird sorgsam mit der Natur und der Tierwelt umgehen.
Dann bleiben wir nicht mehr »cool«, also kühl distanziert, sondern es geht uns nahe. Wir sind mit der Welt in Beziehung.

Ist es nun ein Zufall, dass der Gott des Christentums ein Gott der Beziehung ist, der den Menschen in so vielen Erfahrungen und konkret in Jesus Christus
nahe gekommen ist? Dieser Gott rührt uns an und lässt sich von uns berühren, und dennoch hat keiner den anderen fest im Griff. Besonders im Gebet
ist das erfahrbar, denn dies ist »ein gleichsam hörendes, auf-hörendes Aufeinanderbezogensein, das verwandelnde Kraft hat, aber beiden Seiten die
»eigene Stimme« und die Antwortfreiheit lässt.« (H. Rosa, Unverfügbarkeit. 2018.) Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat hier etwas überraschend als
Stärke des Glaubens erkannt, was vielen von uns heute schwerfallen mag: sich etwas oder jemandem aussetzen, in Kontakt und Beziehung treten und die
Antwort als Geschenk, oder noch besser als Gnade zu erkennen. Genau hier kann die große Bedeutung von Religion(en) in den modernen Gesellschaften
liegen, denn im Glauben ist dieses große Wissen um die Unverfügbarkeit der Welt immer erhalten geblieben.
Wer glaubt, weiß, dass wir eben nicht alles im Griff haben, und lebt trotzdem in Freude.

»Die Früchte der Erde genießen zu dürfen,
sein Leben leben zu können 
und Mitmenschen in Beziehung zu begegnen
- das ist ein Geschenk Gottes, 
das ist Gnade. 
Wenn wir das merken, ist Erntedank.«

Raimund Stadlmann

Fotos:
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